Warum die momentane Digitalisierungsstrategie nicht funktionieren kann
Die Digitalisierung betrifft uns alle, auch die Stadt Nürtingen. Die bevorstehenden Veränderungen sind enorm und unausweichlich. Allerdings ergeben sich auch große Potentiale und Chancen. Um diese nutzen zu können, ist eine ausgereifte, zukunftsfähige und gleichzeitig mutige Strategie unabdingbar. Leider ist die Nürtinger Digitalisierungsstrategie keines davon. Die Gründe für diese Einschätzung soll der folgende Text liefern. Im ersten Schritt ist es unserer Ansicht nach wichtig, bestimmte Begriffe zu erläutern.
Was bedeutet Digitalisierung?
Digitalisierung ist zum absoluten Modewort geworden. Überall wird darüber gesprochen, jedoch vermag kaum jemand eine eindeutige Antwort auf die Frage geben zu können: Was genau bedeutet der Begriff Digitalisierung? Dass das Wort in der Vergangenheit bereits seine Bedeutung geändert hat, mach es nicht leichter. Hier dennoch der Versuch einer klaren Definition. Im Prinzip lassen sich drei verschiedene Begriffe unterscheiden, die jedoch fälschlicherweise oft zusammengeworfen werden. Digitalisierung (im englischen Digitization und Digitalization) und der Digitale Wandel (auch Digitale Transformation genannt).
- Digitalisierung (Digitization): Umwandeln von Analog in Digital, Automatisierung und Digitalisierung von Prozessen
- Digitalisierung (Digitalization) : Ermöglichen, Verbessern und Verändern von Vorgängen, Prozessen und Aktivitäten, indem digitale Technologien und digitalisierte Daten genutzt werden.
- Digitale Transformation / Digitaler Wandel : Ist das Anpassen von Vorgängen, Prozessen und Modellen, um die Veränderungen und Möglichkeiten von digitalen Technologien und deren Einfluss auf die Gesellschaft maximal wirksam einzusetzen
Um das Ganze etwas greifbarer zu machen, kann als eine Grundlage der Digitalisierung die Möglichkeit genannt werden, nahezu unmittelbar, frei und fehlerlos Menschen, Geräte und physische Objekte miteinander zu verbinden. Die Dimension dieser Entwicklung wird deutlich mit der Schätzung von Gartner, dass bis 2020 über 20 Milliarden Geräte miteinander verbunden sein werden, fast dreimal so viele, wie die Gesamtbevölkerung der Erde.
Merkmale einer (guten) Strategie
Eine Strategie ist dann notwendig, wenn der Weg zu einem Ziel nicht direkt ist. Die Grundlagen wurden bereits vor weit über tausend Jahren formuliert und sind bis heute gültig.
- Eine Strategie hat ein klar definiertes Ziel
- Eine Strategie gibt einen zu folgenden Weg vor
- Eine Strategie besteht aus Teilen, Maßnahmen, Initiativen (Taktik)
- Jedes Teil, jede Maßnahme und Initiative bringt einen näher zum definierten Ziel
Eine gute Strategie muss sich auf das Ziel fokussieren und dabei mögliche Hindernisse vorhersehen, um es zu erreichen. Ebenso braucht es eine gute Balance zwischen Strategie und Taktik. Eine Strategie mit wenig Taktik läuft Gefahr, in der Umsetzung zu scheitern, und Taktik mit zu wenig Strategie verliert das Gesamtbild aus den Augen.
Die Stadtverwaltung Nürtingen hatte sich vorgenommen, in einem 10 monatigen Prozess mit dem externen Dienstleister Gt-service GmbH und einem Budget von 40.000 € eine Digitalisierungsstrategie zu erarbeiten. Das Ergebnis wurde im Februar 2019 veröffentlicht.
Nürtingens Digitalisierungsstrategie: moderNTimes
Das erste und auch verhängnisvollste Problem der Nürtinger „Digitalisierungsstrategie“ wird deutlich, sobald man versucht, ein klar definiertes Ziel auszumachen. Es finden sich jede Menge unpräzise und schwammige Formulierungen wie „Nürtingen möchte im Bereich der Digitalisierung Vorreiter und Leuchtturm über die Grenzen des Landkreises Esslingen hinaus sein“, „Die Digitalisierung soll für die Menschen sichtbar, greifbar und erlebbar gemacht werden“, „Die Digitalisierung fördert die Standortfaktoren und verbessert die Lebensqualität der dort lebenden Menschen“, oder es „sollen bereits umgesetzte Projekte […] in ein Gesamtkonzept gebracht werden.“ Was dieses Gesamtkonzept ist, wird jedoch aus dem Text nicht ersichtlich. Ein klar definiertes Ziel, an dem sich eine Strategie ausrichten muss, lässt sich nicht finden.
Die Ist-Analyse welche durch die Gt-service GmbH und von Mitarbeitern der Verwaltung durchgeführt wurde, hätte die Basis für die Formulierung eines Ziels sein können. Jedoch wurde hier der Stand der Digitalisierung isoliert betrachtet. Wäre die Erhebung des Ist-Zustandes und die Stärken /Schwächen Analyse auf die Stadt Nürtingen in ihrer Gesamtheit bezogen, wären die Stärken Nürtingens tatsächlich herausgearbeitet worden, könnte man daraus ableiten, wie die Digitale Transformation sinnvoll eingesetzt werden kann, um die Stadt wirklich nach vorne zu bringen. Ebenso muss im vornherein ermittelt und festgelegt werden, welche Kapazitäten finanziell und personell für das Gesamtprojekt zur Verfügung stehen.
Den Weg zum Ziel zu definieren erweist sich mangels eines klar definierten Ziels als ebenso schwierig. Der Weg der Nürtinger „Digitalisierungsstrategie“ scheint es zu sein die erarbeiteten Einzelmaßnahmen um ihrer selbst willen bis zu einem festgelegten Zeitpunkt umzusetzen. Der Nutzen jeder Maßnahme wird nicht am Fortschritt Richtung Ziel, sondern anhand der betroffenen Einwohner gemessen. Die Digitalisierung darf nicht als Selbstzweck begriffen werden, heißt es richtigerweise in dem Schriftstück. Jedoch ist genau dies das Resultat dieser „Digitalisierungsstrategie“.
Einen Lichtblick geben die teilweise mit der Bevölkerung erarbeiteten Einzelmaßnahmen. Hier finden sich unter anderem gute Ideen, die jedoch drohen ohne ein Ziel und Gesamtkonzept in der Umsetzung oder im Ergebnis zu scheitern.
Wie weiter oben erwähnt ist es für eine Strategie wichtig, mögliche Hindernisse auf dem Weg zum Ziel vorherzusehen. In der Nürtinger „Digitalisierungsstrategie“ wird hier zum Beispiel der „digital divide“ genannt, bei dem durch die Digitalisierung bestimmte Gruppen von Menschen ausgegrenzt werden. Jedoch wird hier kein brauchbarer Lösungsansatz geliefert, welcher unserer Auffassung nach Teil der Überlegung sein muss.
Welchen Einfluss hat die Digitalisierung auf die Strategie?
Auch eine Strategie muss sich den neuen Verhältnissen, die durch die Digitalisierung entstehen, anpassen. Die namhafte Beraterfirma McKinsey hat in einer Studie ermittelt, woran Unternehmen in der Digitalisierung scheitern und was für eine erfolgreiche Digitalisierungsstrategie notwendig ist. Dies lässt sich sicherlich nicht eins zu eins auf eine Kommune übertragen. Dennoch ergeben sich hieraus wichtige Grundlagen.
- Mut : Unternehmen, die große, mutige und offensive Strategien entwickeln, sind deutlich erfolgreicher als Unternehmen, die defensive Maßnahmen ergreifen. Es ist entscheidend, dass diese wirklich eine Transformation zur Folge haben und nicht bloß aus ein paar Sparmaßnahmen bestehen. Ein paar Einzelmaßnahme am Laufen zu haben entspricht keiner Strategie
- Schnelligkeit : Der digitale Wandel belohnt diejenigen, die als erstes handeln und ein paar, die es schaffen ganz schnell nachzuziehen. Schnelligkeit ermöglicht einen Erfahrungs- und Wissensvorsprung, welcher bei der Digitalisierung ausschlaggebend ist. Verschärfend kommt hinzu, dass der Digitale Wandel eine winner-takes-it-all Ökonomie vorantreibt.
- Anpassungsfähigkeit : Durch schnelle und sich ständig verändernde Umstände ist ein hohes Maß an Anpassungsfähigkeit erforderlich. Eine starre Strategie verhindert, mutig Chancen zu ergreifen.
- Plattformen, Netzwerke und Ökosysteme : Plattformen und Netzwerke ermöglichen Unternehmen, sich über Branchen hinwegzubewegen. In einer Welt der digitalen Ökosysteme, in der die Grenzen zwischen Industriezweigen verschwimmen, ist es notwendig, den Blick einer Strategie zu weiten.
McKinsey erkennt, dass Ausmaß und die Geschwindigkeit der Veränderung durch die Digitalisierung je nach Branche und Unternehmen unterschiedlich ausfallen und die strategische Ausrichtung dementsprechend angepasst werden muss. Eine Kommune ist weniger einem schnellen Wandel ausgesetzt, das Ausmaß der Veränderungen ist dagegen sehr groß. Dies bedeutet, dass Nürtingen sicherlich zweigleisig fahren muss und analoge Strukturen und Prozesse nicht sofort abschaffen kann. Dennoch müssen wir uns auf gewaltige Veränderungen einstellen. Dies macht es absolut notwendig, Prozesse und Plattformen zu schaffen, die eine ständige Innovation, Einbindung von Bürgerschaft, Wirtschaft und anderen Akteuren ebenso wie eine sach- und fachgerechte Bewertung einzelner Maßnahmen ermöglichen.
Bemerkenswert ist, dass in der Nürtinger „Digitalisierungsstrategie“ von Digitalisierung, Digitalem Wandel und vernetztem Denken geredet wird, jedoch den Verfassern nicht klar zu sein scheint, was sich hinter diesen Begriffen wirklich verbirgt. Diese verkommen zu leeren Worthülsen, da sie nicht in der Ausarbeitung der Digitalisierungsstrategie zur Anwendung kommen. Es lässt sich kein Gesamtkonzept finden, in dem die genannten Einzelmaßnahme eingeordnet werden können. Es wird zwar innerhalb einzelner Maßnahme und Initiative von Netzwerken und vernetzten Daten geredet, jedoch werden diese Bereiche immer isoliert betrachtet und nicht miteinander verknüpft. Genau darin liegt aber die Stärke und der Vorteil der Digitalisierung, was für einen erfolgreichen Digitalen Wandel unabdingbar ist.
Was bedeutet das konkret?
Wie so eine Strategie im groben Ansatz aussehen könnte, möchten wir in einem Beispiel verdeutlichen. Unabhängig davon ob das gewählte Ziel für Nürtingen passt. Das kann und will NT14 nicht alleine entscheiden.
Nehmen wir an, das definierte Ziel sei folgendes: „Nürtingen will
bis 2025 im Landkreis Esslingen die Stadt der sozialen und
kulturellen Startups sein“.
Zunächst müsste die benötigte
Infrastruktur geschaffen und bestehende angepasst werden. Dabei ist
eine schnelle Anbindung an das Internet der kleinste Teil. Da
Startups zum großen Teil von jungen Menschen betrieben werden, ist
die umgebende soziale Infrastruktur, bestehend aus
Bildungseinrichtungen, kulturellen und sozialen Einrichtungen, sowie
Parks, Spielplätze und Sportanlagen, von großer Bedeutung. Man müsste
die Innenstadt und andere Stadtgebiete attraktiv für junge Menschen
machen. Diese Unternehmen könnten nicht in ein Industriegebiet
ausgelagert werden, sondern müssten strategisch sinnvoll in der Stadt
angesiedelt werden. Die Stadt müsste Plattformen schaffen, oder
zumindest mitinitiieren, über die sich Startups, Bürgerschaft,
Hochschulen, Wirtschaft, potenziellen Geldgebern usw. vernetzen und
gegenseitig befruchten können. Das könnte über digitale Plattformen
wie auch über regelmäßige Veranstaltungen oder Events passieren.
Langfristig müsste es Ziel sein, die Startups dauerhaft in der Stadt
zu verankern, denn nur wenn ein Startup Erfolg hat, rechnet sich auch
die Investition von Seiten der Gemeinde. Somit müsste den Unternehmen
einerseits Platz zum Wachsen gegeben werden, andrerseits müssten auch
die Menschen, die in den Startups arbeiten, sozial an Nürtingen
gebunden werden.
Das (durchaus unvollständige) Beispiel verdeutlicht, dass das Thema Digitalisierung nicht isoliert betrachtet werden kann, wie dies in der jetzigen „Digitalisierungsstrategie“ der Fall ist. Es müssen auch die nicht direkt von der Digitalisierung betroffenen Bereiche mit in die Strategie einbezogen werden.
Das Grundproblem ist jedoch, dass Nürtingen insgesamt nicht weiß, wo es in Zukunft hin will. Weshalb der Versuch, eine Digitalisierungsstrategie zu entwerfen, von Anfang an zum Scheitern verurteilt war. Ob das einer Beraterfirma wie der Gt-service GmbH nicht hätte auffallen müssen, ist eine andere Frage.
Klar ist, dass kein Weg daran vorbeiführt, klare Ziele für die Zukunft zu entwickeln. Dies muss in Zusammenarbeit mit der Bürgerschaft, Wirtschaft, den Bildungseinrichtungen, Vereinen und Kulturschaffenden geschehen und zwar so schnell wie möglich.